kathi25 Katharina Schmidt

Die kleine Mindy war schon immer ein kränkliches Mädchen. Mama und Papa haben sich immer gut um sie gekümmert, aber auf einmal lassen sie sie nicht zurück ins Haus. An Omas Grab lernt sie, dass sie gestorben ist und nun an einen anderen Ort reisen kann. Wird sie der Einladung folgen? Oder bleibt sie bei Mama und Papa, die noch immer jeden Abend ein Licht für sie anzünden?


Cuento No para niños menores de 13.

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Cuento corto
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Was danach geschieht

Und manchmal kann man sie sehen, wie sie leise im Nebel durch die Wellen gleiten. Beschienen vom hellen Licht des vollen Mondes tragen sie all die Seelen, die sie gefangen haben. Sie schaffen sie fort und bringen sie nie, nie wieder.

Weinend sitzt sie auf der Treppe am Straßenrand. Die Beine fest an ihren Körper gepresst und von den Armen umschlungen. Sie ist allein. Ganz allein.
Stunden vergehen.
Eine Frau geht an ihr vorbei, doch sie beachtet sie nicht. Sie weint. Sie weint einfach weiter, die Nacht hindurch, bis das erste Tageslicht die Vögel aus ihren Nestern lockt.
Eine Mama und ein Papa gehen an ihr vorbei. Sie sieht ihnen nach, doch sie reagieren nicht. Sie halten einen Jungen mit einem Rucksack an ihren Händen. Wahrscheinlich ist er ein Schulkind, genau wie sie. Der Junge sieht zu ihr hinüber und grinst. Dabei legt er seine fehlenden Schneidezähe frei. Auch ihr fehlt einer dieser Zähne, was ein leichtes Lispeln zur Folge hat.
Lächelnd wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und steht auf. Der Junge hat sie angesehen. Der Junge ist nett. Nicht so, wie die Mamas und Papas in dieser Stadt.
Die Haustür geht auf. Strahlend dreht sie sich um.
„Mama! Papa!“, ruft sie glücklich und rennt die Treppe hinauf. Rufus, der dicke Kater kommt angerannt.
Sie stolpert, fällt hin, steht auf und rennt weiter. Rufus hat sie überholt. Er springt durch die offene Tür in das Haus und … Bumm. Die Tür fällt zu.
Papa hat Rufus ins Haus gelassen.
Mindy nicht.
Zitternd bleibt sie vor der Tür stehen. Mamas und Papas dürfen keine Kinder im Schlafanzug vor dem Haus stehen lassen!
Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Langsam beginnt sie es zu verstehen. Sie hat wieder einmal mit dem Essen gespielt. Deswegen muss sie draußen bleiben. Das hat Mama doch immer gesagt.
„Du musst nicht weinen, Kleines“, brummt eine tiefe Stimme hinter ihr. Ein großer Mann streckt ihr lächelnd seine Hand entgegen. Sein Körper scheint fast komplett von Tattoos bedeckt zu sein. „Nimm meine Hand, wir gehen an einen besseren Ort.“
Einige Sekunden lang starrt sie den fremden Mann an. Dann ruft sie so laut, wie sie nur kann: „NEIN!“ Mindy läuft zu dem Geländer der frei stehenden Treppe, klettert gekonnt hindurch und rennt über den Bürgersteig davon.

Niemand möchte ihr helfen. Die Menschen in der Stadt möchten sie nicht einmal ansehen.
Was soll ein Mädchen machen, das offensichtlich von niemandem beachtet wird, außer von einem Jungen in ihrem Alter und einem gruseligen, großen Mann?
Sie muss etwas essen, etwas trinken, schließlich sitzt sie bestimmt schon drei Tage vor ihrem Haus und weint. An Essen oder Trinken hat sie da gar nicht gedacht.

„Wenn Mama und Papa mich nicht rein lassen, dann muss ich wo anders hin. Mein alter Kindergarten lässt mich bestimmt rein. Die Erzieher waren immer nett zu mir“, sagt Mindy zu sich selbst und bleibt stehen.
Sie ist bis zu dem kleinen Kiosk gerannt, an dem sie immer die Cola für Papa kaufen sollte. Der Verkäufer, ein Opa, gab ihr manchmal einen Lolly umsonst.
Jetzt sieht er sie nicht einmal an.
„Hallo!“, ruft sie ihm freundlich zu. Der Opa sieht nicht von seiner Zeitung auf.
„Hallo!“ ruft sie erneut. Dieses Mal etwas lauter. Viele Opas können nicht mehr so gut hören, deshalb muss man sie schon fast anschreien. Bei ihrem Opa aber nicht, denn der hat noch immer Ohren wie ein Luchs.
Wieder keine Reaktion.
„Warum sprichst du nicht mit mir?“, ruft sie über den schmalen Tresen. „Ich will doch nur dass du mir ‚Hallo‘ sagst!“ Noch immer nichts.
„Blöder Opa“, murmelt sie und geht an dem Kiosk vorbei.

Mindy muss bis zur Kirche laufen, um zum Kindergarten zu kommen. Die ist zwei Straßen weiter. Von da aus führt ein schmaler Gang zwischen einem Haus und der Mauer vom Friedhof, auf dem ihre Oma begraben ist, auf eine andere Straße. Da ist der Kindergarten, direkt gegenüber von dem großen Abenteuerspielplatz, mit dem großen Piratenschiff und dem Kletterbaum.
Die Fenster von dem Kindergarten sind herbstlich dekoriert. Auf dem Abenteuerspielplatz sind Mamas und Papas mit den kleineren Kindern, die noch nicht in den Kindergarten gehen dürfen.
Mindy folgt einer Mama, die gerade den Kindergarten betritt und schlüpft hinter ihr durch die Tür.

„Ich habe das Frühstück für Johnny mitgebracht. Wir haben die Dose heute Morgen auf dem Tisch stehen gelassen“, erklärt sie der moppeligen Erzieherin und drückt ihr eine Polizeibrotdose in die Hand. Mindy begrüßt sie und geht ohne eine Antwort zu bekommen an ihnen vorbei.

Ihr Kindergarten hat sich kaum verändert. Sie konnte zwar nicht so oft hier sein wie die anderen Kinder, aber trotzdem kennt sie jede Ecke zum verstecken und jedes Spielzeug in diesem Haus.

Die Erwachsenen wollen ihr nicht antworten. Die Kinder rennen kreischend und lachend an ihr vorbei.
Ja. Das muss es sein! Mindy weiß es jetzt! Sie ist unsichtbar. Niemand kann sie sehen oder hören. Der Mann im Mond muss ihren Wunsch erfüllt haben. Mama und Papa haben ihr immer erzählt, dass der Mann im Mond ganz selten besondere Wünsche erfüllt. Wahrscheinlich wusste er, dass ihre Krankheit wieder schlimmer geworden war und hat ihr zur Aufmunterung den Wunsch erfüllt, endlich einmal herumrennen und spielen zu können, ohne den ständigen, besorgten Blicken der Erwachsenen ausgesetzt zu sein.
Mindy ist unsichtbar. Vollkommen unsichtbar.

Irgendetwas in ihrem Bauch beginnt stark zu kribbeln. Es breitet sich schnell aus, bis es überall in ihrem Körper kribbelt. Von ihrer Stirn, bis in den kleinen Zeh. Es ist nicht auszuhalten. Das Kribbeln, dieses starke Gefühl, nimmt sie vollkommen ein.
Mindy springt in die Luft. Sie schüttelt ihren ganzen Körper und stößt ein schrilles Quietschen aus. Das Kribbeln wird schwächer, doch sie kann es noch immer spüren. Tief in ihrem Bauch. Sie ist aufgeregt.

Die Gedanken des jungen Mädchens wirbeln in ihrem Kopf wild durcheinander. Sie kann so viel machen, ohne dabei beobachtet zu werden. Sie ist dabei nur für sich. Allein.
Ganz allein.

So macht spielen keinen Spaß. Allein spielen geht. Aber es ist nicht so schön, wie mit einem Freund zu spielen. Auch, wenn sie unsichtbar ist.

Ihr Blick fällt auf das Kuschelsofa der Regenbogengruppe. Ein Haufen Kuscheltiere hat es besetzt.
Mindy erinnert sich an viele Stunden, die sie auf diesem Sofa verbracht hat. Immer, wenn sie müde war, oder es ihr wieder einmal nicht so gut ging, durfte sie sich zu den Kuscheltieren legen und sich etwas ausruhen.
Eines dieser Kuscheltiere ist ihr mit der Zeit sehr ans Herz gewachsen. Ein von der Sonne ausgebleichter, gelber Stoffhase.
Mindy sieht sich um. In der Gruppe spielen die Kinder. Sie haben Spaß, lachen und laufen fröhlich herum, aber sie sehen Mindy nicht. Sie ist inmitten der Kinder, aber trotzdem fühlt sie sich noch immer allein.

Ein Tippen auf ihrer Schulter. Wer kann sie antippen? Ist sie denn nicht unsichtbar? Wenn sie keiner sehen kann, dann kann ihr auch niemand auf die Schulter tippen. Die Kinder können sie anrempeln, schubsen, oder vielleicht sogar durch sie hindurch gehen. Aber ein Tippen genau auf die Schulter kann doch nur jemand, der auch weiß, wo die Schulter ist. Der sie sehen kann.

Sie dreht sich um. Aber hinter ihr steht kein Kind. Kein Junge oder Mädchen. Auch kein Erwachsener. Keine Mama und kein Papa. Was ihr auf die Schulter getippt hat ist nicht einmal ein Mensch. Es ist ein Hase. Ein von der Sonne ausgebleichter, gelber Stoffhase. Seine langen Ohren flattern in der Luft, genau wie Flügel. Er fliegt. Er fliegt und sieht Mindy direkt an.
„Humphrey!“, kreischt Mindy und schließt den Hasen fest in ihre Arme.
Sein struppiges Fell kratzt an ihrer Wange, aber das stört nicht. Nein. Es ist schön. Es erinnert sie an den Bart von Papa, wenn er sie in den Arm genommen hat und sie „mein kleines Häschen“ nannte. Mindy schluchzt. Der Gedanke an Papa macht sie wieder traurig. Sie vermisst Mama und Papa schrecklich.
Marie, ihre Lieblingskrankenpflegerin, muntert sie im Krankenhaus immer auf, wenn sie Heimweh hat. Dann spielen sie gemeinsam, oder machen zusammen Späße.
Jetzt ist es Humphrey, der sie zum Spielen einlädt. Seine Ohren flattern und er fliegt zur Gruppentür der Regenbogengruppe.
„Warte auf mich Humph!“, ruft sie und rennt hinter ihm her.

Eine Mutter öffnet die Kindergartentür, um ihren kranken Sohn abzuholen. Mindy und ihr Freund nutzen die Gelegenheit und schlüpfen hindurch, nach draußen.

„Wo gehen wir hin, Humphrey?“, fragt Mindy den Hasen, der eine Ohrlänge vor ihr fliegt. Die beiden laufen ein Stück Richtung Supermarkt, bis das Häschen mit einem Mal schneller wird und sich auf ein Schild setzt.

Mindy kann noch nicht gut lesen. Sie ist zwar schon acht Jahre, aber weil sie nicht so viel zur Schule gehen kann, wie die anderen Kinder, darf sie in ihrem Tempo lernen. Trotzdem möchte sie es versuchen.
„SS. SSP. SSPII. SSPIE. SSPIELEE“, ihr Blick fällt auf das Bild neben dem langen Wort. „Ein Spieleparadies!“, lacht Mindy und klatscht vor Freude in die Hände. „Das ist eine gute Idee! Danke Humphrey!“ Entschlossen stemmt sie ihre Hände in die Hüften und sieht das Schild noch einmal an. Auf ins Spieleparadies. Ein großer Ort, nur für Kinder. Ein Ort zum Rutschen, Springen, Krabbeln, Klettern, Rollen, Fliegen. Fliegen. Wie gerne würde Mindy einmal fliegen. Sich einfach in die Luft erheben und wegfliegen. Schwerelos über die Stadt schweben. Weg von den Sorgen der Erwachsenen, mit ihren schwierigen Wörtern, deren Bedeutung sie ihr nicht verraten wollen.

Mindy und Humphrey folgen den Schildern zu einem großen Haus. Ein Betonklotz ohne Fenster. Vor der großen Tür stehen wenige Mamas und Papas mit den jüngeren Kindern, eine Kindergartengruppe und eine Schulklasse.
Mindys Schritt verlangsamt sich. Der große Betonklotz ist bunt bemalt, mit einem Bild von einem Clown, der sie mit seiner roten Nase und seinem breiten Grinsen anstarrt und der den Mund soweit aufreißt, dass es aussieht, als würde er die Kinder verschlucken, die durch die Tür hinein gehen.
Das soll ein Spieleparadies sein? Mindy hat es sich immer ganz anders vorgestellt. Nicht wie einen großen Klotz aus Beton, der wirkt, als würde er die Kinder verschlucken wollen.
Langsam schreitet Mindy weiter auf den großen Block zu. Soll sie da jetzt wirklich rein gehen? Hat sie wirklich richtig gelesen? Ist das ein Spieleparadies? Ein Spieleparadies für Kinder?
Vorsichtig geht sie an der Schlange mit den Wartenden vorbei. Hallende, laute und schrille Schreie dringen aus dem weit aufgerissenen Mund zu ihr.
Mama hat ihr einmal eine Gruselgeschichte vorgelesen. Sie hat ihr etwas beschrieben, was sie ‚Höllenschlund‘ genannt hat. Genau so stellt Mindy sich das vor.
Mit zitternder Hand greift sie nach Humphrey und drückt ihn fest an sich.
„Wir gehen da jetzt rein. Zusammen sind wir stark, Humph!“, sagt sie leise und drängelt sich an einer Gruppe Kinder vorbei.

Hinter der Tür ist die Kasse. Der Raum mit der Kasse ist bunt, aber trotzdem dunkel. Gruselig.
Vor dem Vorhang, der den Raum der Kasse von dem Rest des Klotzes trennt, bleibt Mindy stehen und atmet noch einmal tief durch

In dem Bauch des großen Clowns ist eine große Halle, gefüllt mit Hüpfburgen, Klettergerüsten und Bällebecken. Ein richtiges Spieleparadies. Genau so, wie Mindy es sich vorgestellt hat. Naja. Fast.

Sie lässt Humphrey los und die beiden rennen durch die Halle.
Sie springen, rutschen, klettern, schwimmen durch die riesigen Becken, gefüllt mit kleinen Bällen, sie lachen und spielen Verstecken.
Humphrey ist nicht besonders gut im Verstecken, aber dafür findet er Mindy immer sofort.
Mit ihm zu spielen ist zwar schön, aber nicht das selbe wie mit anderen Kindern.

„Das Spieleparadies schließt in zehn Minuten. Bitte bereiten Sie alles für Ihren Abschied vor“, ertönt eine ruhige Stimme aus den Lautsprechern, die in der Halle verteilt sind. Das Kindergeschrei übertönt sie nur schwer, aber in der Mama-und-Papa-Ecke ist es bestimmt lauter.

Mindy sitzt ganz oben auf einem Klettergerüst und sieht schon seit einer ganzen Weile den spielenden Kindern zu. Sie beobachtet, wie die Mamas und Papas ihre Kinder zu sich rufen und mit ihnen zusammen nach Hause fahren.
Mit einem Satz springt sie von dem Klettergerüst in ein Bällebecken und verlässt mit dem letzten Kind die Halle.

Der Clown hat sie in eine dunkle und nasse Welt gespuckt. Der starke Regen sammelt sich in Pfützen und Mindy ist noch immer im Schlafanzug.

„Bist du ganz allein?“, fragt eine Frauenstimme hinter ihr. Mindy dreht sich um.
„Nein. Ich habe Humphrey bei mir“, sagt Mindy leise und drückt ihren Stoffhasen an sich.
Die Frau nickt und wirft einen Blick auf die leeren Arme des jungen Mädchens. Die Frau ist bestimmt keine Mama. Sie hat zwar eine Menge Falten im Gesicht und richtig viele weiße Haare, aber keine Mama macht sich die Haare auf dem Kopf zu einem Turm und trägt ein Kleid, mit dem sie nicht mehr gerade durch eine Tür gehen kann.
„Bist du eine Schauspielerin oder eine Prinzessin?“, fragt Mindy neugierig. Solche Kleider hat sie zuvor nur in Filmen gesehen.
„Nein, meine Kleine. Ich bin nur schon sehr alt“, lächelt sie.
„Dann bist du eine Königin?“ Die Frau muss lachen.
„Nein, mein Liebes. Ich bin niemand Besonderes. Mein Name ist Cathrine und wie heißt du?“
„Mindy“, antwortet sie höflich.
„Hallo Mindy. Möchtest du mit mir spazieren gehen?“
„Kinder sollen nicht einfach mit Fremden mitgehen“, sagt sie Keck.
„Das ist richtig. Deshalb darfst du auch aussuchen, wo wir lang gehen“, lächelt die Frau.
Mindy zuckt mit den Schultern. „Okay.“
Sie gehen los. Ihr Weg führt sie durch die großen Straßen der kleinen Hafenstadt. Aus den kleinen Fenstern der Häuser, links und rechts von ihnen, scheint das grelle Licht von Röhrenlampen, wie es sie auch bei ihrem Papa auf der Arbeit gibt.
Mindy weiß, wo sie hingegangen sind. Hier arbeiten die Mamas und Papas, bis ganz spät abends in kleinen Büros.
Sie ist einmal ausversehen mit Mama hier gelandet, als die beiden ein Kleid für Omas Beerdigung kaufen mussten. Das schwarze Kleid hat sie danach nie wieder angezogen.

Cathrine und Mindy gehen weiter, bis sie den Hafen sehen können. Die Regentropfen prasseln auf die Straße und Wellen klatschen kühl gegen die Hafenkante.
Mindy bleibt stehen. „Da will ich nicht hin“; murmelt sie und sieht ihre Begleitung an. „Nachts sind da die Geisterschiffe, die die Seelen der Menschen mitnehmen.“
Cathrine lächelt. „Ja ich verstehe. Aber bist du denn nicht neugierig? Wollen wir sie uns einmal ansehen? Aus der Ferne?“
Mindy zögert.

Die große Glocke im Turm der Kirche schlägt zwölf Mal. Die Masten der großen Schiffe ragen dunkel in den Himmel hinauf.
Der Regen hat nachgelassen. Die dunklen Wolken haben sich verzogen und das helle Mondlicht reflektiert sich in dem dünnen Nebel, der mit jeder Minute dicker zu werden scheint.

„Das sind die Geisterschiffe“, flüstert Mindy.
Cathrine nickt. „Wir nennen sie Seelenschiffe. Sie bringen die Seelen der Verstorbenen hinüber.“
„Hinüber?“, fragt Mindy neugierig. „Wohin denn hinüber?“
Cathrine lächelt sanft. „Das weiß niemand so genau. Aber die Verstorbenen sollten nicht hierbleiben“, erklärt sie geduldig.
„Und warum ist das so?“, fragt Mindy weiter. „Warum können die Verstorbenen nicht einfach da bleiben, wo sie wollen?“
„Das geht nicht, weil ansonsten die ganzen Toten in dieser Welt umherwandeln würden. Auf Dauer wird niemand damit glücklich.“
Mindy denkt darüber nach, was die fremde Frau ihr erzählt hat. „Aber können die Toten nicht miteinander spielen? Dann sind doch wieder alle glücklich“, stellt sie schließlich fest.
Die Frau schmunzelt. „Das wäre schön, aber so einfach ist das leider nicht. Die Toten werden täglich mit ihrem alten Leben konfrontiert. Mit dem, was war und was hätte sein können.“
Mindy nickt. Sie versteht noch nicht ganz, was Cathrine ihr erzählen möchte, aber sie hat bestimmt Recht.
„Ich möchte dich einladen“, sagt Cathrine schließlich.
„Einladen? Zu was denn?“
„Ich möchte dich einladen, mit uns gemeinsam zu segeln.“
Mindy überlegt. „Mit einem der Schiffe?“, fragt sie verdutzt.
Cathrine nickt. „Segel doch mit uns auf einem der Seelenschiffe. Die Crew ist nett. Einige von ihnen freuen sich sicherlich, wenn du mit ihnen spielst.“
Skeptisch blickt Mindy sie an. „Das macht doch gar keinen Sinn! Wieso soll ich denn mit den Toten segeln? Ich lebe doch noch!“
Das Lächeln in Cathrines Gesicht verschwindet. Vorsichtig hockt sie sich, so gut es geht, neben Mindy. Den Gesichtsausdruck kennt sie. Dieser mitleidige, besorgte Blick. So sehen sie alle Erwachsenen an.
„Hör mal, Liebes. Ich glaube du weißt noch gar nicht richtig, was mit dir passiert ist“, sagt sie sanft.
„Ich bin unsichtbar“, erklärt Mindy und überlegt kurz.
Cathrine lacht vornehm, wie es sich für eine Königin gehört. „Da hast du nicht ganz unrecht, Liebes. Du kannst von den Lebenden nicht gesehen werden, weil du nicht mehr bist, wie sie.“
Mindy kneift ihre Augen zusammen, sodass sie die seltsam gekleidete Frau nur noch durch kleine Schlitze sehen kann. „Ich bin unsichtbar.“
„Ja das bist du. Für alle Lebenden bist du unsichtbar. Aber für Menschen wie mich, oder Fernando, dem großen Mann mit den Tattoos, bist du es nicht.“
„Und wieso das?“
„Das liegt daran, dass auch wir nicht mehr am Leben sind. Fernando und ich sind bereits vor einer ganzen Weile gestorben. Unsere Seelen haben sich von unseren Körpern gelöst. Die Körper hat man begraben, oder verbrannt, aber unsere Seelen sind unsterblich. Und so steuern wir einmal im Monat diesen Hafen an, um andere Seelen, die sich von ihren Körpern getrennt haben, einzuladen mit uns an einen anderen Ort zu segeln“, erklärt Cathrine weiter, mit einer besorgten Miene.
„NEIN!“, ruft Mindy plötzlich laut. Erschrocken richtet die fremde Frau sich auf. „Hör doch auf so etwas zu sagen! Ich bin nicht tot! Wenn ich tot wäre, dann würde ich ja jetzt bei Oma auf dem Friedhof liegen!“, brüllt sie und rennt weg.
Mindy rennt und rennt. Weg von Cathrine und ihrer seltsamen Gruselgeschichte. Weg von dem Hafen, mit den dunklen Geisterschiffen. Weg von dem Nebel, der alles zu verschlingen scheint.
Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie hat oft darüber nachgedacht, wie es wohl ist, wenn sie stirbt. Sie weiß, dass es dazu kommen wird. ‚Früher oder Später‘ sagen die Ärzte immer. Sie können es nicht genau eingrenzen, aber mit jedem Krankenhausaufenthalt wird es weniger Zeit, die sie noch zu leben hat.
Tot. Nein. Das kann sie noch nicht sein. Sie wurde doch gerade eben erst aus dem Krankenhaus entlassen. In zwei Tagen darf sie wieder in die Schule. Oder in einem?
Mindy rennt weiter. Sie weiß nicht, wie lange sie nun schon rennt, aber mit einem Mal taucht vor ihr ein riesiges Gesicht auf. Kalte, weit aufgerissene Augen starren sie wild an und ein breiter, roter Mund grinst höhnisch, als würde er sie auslachen.
„Wie dumm du bist! So dumm, dass du nicht einmal weißt, ob du tot bist oder nicht!“, brüllt er ihr entgegen. Die Tränen rollen über Mindys Wangen. Weinend und laut schreiend rennt sie vor dem großen Monster weg. Vorbei an dem Spieleparadies zu dem Kindergarten, in dem ein seltsames, rotes Licht brennt. ‚Die Hölle‘ Muss Mindy unweigerlich denken. Ist das die Hölle? Hat sie etwas falsch gemacht und muss nun in die Hölle? Aber sie ist doch gar nicht tot!
Das Licht geht aus.
Mindy hat den schmalen Gang erreicht, der an dem Friedhof entlangführt. Sie rennt weiter. Auf dem unebenen Boden knicken ihre Füße um, aber sie kümmert sich nicht darum. Es tut nicht einmal weh.
Ein Stock verfängt sich zwischen ihren Beinen. Sie fällt hin. Schlägt mit dem Kopf auf, aber spürt nichts. Gar nichts. Stolpernd rappelt sie sich wieder auf und läuft bis zum Ende des Ganges und weiter an der Mauer entlang zu dem großen Friedhofstor. Mit einem Ruck reißt sie es auf und rennt zwischen den Gräbern zu dem Grab ihrer Oma. Den Weg kennt sie, denn sie geht mit Mama jeden Sonntag hier her, um die Blumen zu gießen. Und das jetzt schon seit zwei Jahren.
Das Licht der Laternen, die in großen Abständen auf dem Friedhof stehen, leuchtet schwach auf das ihr so bekannte Grab. Doch es hat sich verändert. Die Erde ist an der einen Stelle aufgelockert und es liegen Kränze mit Blumen auf der Erde, die langsam verblühen. Und da ist noch etwas. Auf dem großen Stein ihrer Oma ist etwas Neues eingraviert. Mindy sieht ihn sich genauer an und versucht die Innschrift zu lesen. Ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken und mit einem Mal wird es still. Ganz still. Sie kennt den Namen auf dem Grabstein. Mindy Stillson.

„Du musst nicht weinen, kleines Mädchen“, sagt eine tiefe Stimme hinter ihr. Erschrocken dreht Mindy sich um und starrt den fremden Mann an, der sich mit einem breiten Grinsen zu ihr hinunter beugt. Es ist der Mann, der sie vor ihrer Haustür angesprochen hat. Von Kopf bis Fuß tättoowiert und eine von der Sonne stark gebräunte Haut.
„ICH BIN TOT!“, schreit Mindy den fremden Mann an. Er grinst weiter und setzt sich im Schneidersitz auf den Weg vor dem Grab.
„Ich auch“, sagt er und klingt fröhlich. Auch Mindy setzt sich hin.
„Aber wieso bist du denn so glücklich?“
„Weil mein Leben schon vor sehr langer Zeit beendet wurde. Ich habe jetzt ein anderes Leben. Segel mit meiner Crew auf den Seelenschiffen und sammle all die Seelen, deren Zeit in dieser Welt vorbei ist.“
„Vermisst du denn nicht deine Mama und deinen Papa?“, fragt Mindy leise und wischt sich die letzten Tränen von den Wangen.
Der Mann lächelt sanft. „Vermisst du deine Eltern?“
Mindy nickt.
„Dann sollten wir sie besuchen gehen.“
„Aber sie können mich doch gar nicht sehen. Ich bin unsicht… Ich bin tot“, erwidert Mindy und wieder steigen Tränen in ihre Augen.
„Du hast Recht, kleines Mädchen. Aber du kannst sie sehen.“
„Mindy. Ich bin kein kleines Mädchen. Ich bin Mindy.“
Wieder lächelt der Tättoowierte. „Mein Name ist Fernando.“
„Cathrine hat von dir gesprochen“, erklärt Mindy und Fernando nickt.
„Ja. Wir segeln gemeinsam.“ Er macht eine kurze Pause. „Ich mache dir jetzt einen Vorschlag kleines… Mindy.“
Mindy sieht ihn aufmerksam an.
„Wir beide gehen jetzt zu deinen Eltern. Wir sehen nach, ob es ihnen gut geht.“
Mindy nickt heftig.
„Und danach zeige ich dir mein Schiff. Du kannst es dir in aller Ruhe anschauen und selbst entscheiden, ob du mit uns gemeinsam segeln möchtest, oder ob du wieder von Bord gehst und wir es nächsten Monat noch einmal versuchen. Was sagst du dazu?“
Mindy überlegt. Sie darf nicht mit Fremden mitgehen. Das haben Mama und Papa ihr immer erklärt. Aber wenn sie jetzt tot ist, wo soll sie denn dann hin? Zu Mama und Papa kann sie nicht wieder zurück und Humphrey ist auf Dauer auch kein besonders guter Begleiter. Der von der Sonne ausgeblichene Hase setzt sich auf ihre Schulter. Fast so, als wolle er sie trösten, oder sich vielleicht auch ein bisschen beschweren.
Fernando ist gar nicht so gruselig. Und Cathrine ist auch eine nette Frau. Mama und Papa würden es sicher wollen, dass Mindy, auch wenn sie tot ist, jemanden an ihrer Seite hat, mit dem sie spielen und Abenteuer erleben kann.
„Aber erst gehen wir zu Mama und Papa“ murmelt sie leise.
„Aber natürlich!“, sagt Fernando und steht auf.

Mindy und Fernando gehen vorbei an dem kleinen Kiosk, der nun geschlossen hat, bis zur Haustür, vor der Mindy drei Tage lang gesessen und geweint hat.
Aus dem Wohnzimmerfenster dringt ein schwach flackerndes Licht auf die Straße. Mama und Papa sitzen noch vor dem Fernseher.
Mit Leichtigkeit packt Fernando Mindy unter den Armen. Das Mädchen kreischt kurz auf, aber er setzt sie auf seine Schultern. Das ist in Ordnung. Mindy kann in das Fenster hineinsehen. Mama und Papa schauen eine von diesen langweiligen Sendungen, in denen sie nur reden. Sie liegen gemeinsam auf dem Sofa. Papa in Mamas Arm. So, wie Mindy es früher getan hat. Neben dem Fernseher steht eine Kerze. Mindy kann es nur schwer erkennen, aber dahinter steht ein Bild von ihr. Sie kann sich noch daran erinnern, wo das Foto gemacht wurde. Auf der Wiese vor dem Krankenhaus. Im Sommer, als es ganz warm war und Papa sie extra nach draußen getragen hat, weil sie keinen Rollstuhl gefunden haben und Mindy zu schwach zum Laufen war. Eine Träne rollt ihr über die Wange. Mama und Papa vermissen sie auch. Genau wie sie.
„Du kannst mich wieder runterlassen“, schnieft Mindy und lässt sich von dem starken Fernando wieder auf den Boden setzen.
„Na komm, ich zeige dir mein Schiff“, sagt Fernando gefühlvoll und streichelt durch Mindys Haar. Sie nickt und nimmt seine Hand.

Seite an Seite gehen sie die Straße entlang. Ein großer, tätoowierter Mann und ein kleines Mädchen im Schlafanzug.

22 de Marzo de 2022 a las 17:37 0 Reporte Insertar Seguir historia
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Fin

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Katharina Schmidt Ich liebe es meine Fantasie beim Schreiben zu verwirklichen und in Welten einzutauchen, die ich nach meinen Wünschen gestalten kann 💭💖💕

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